Das Erbe der Tuchvilla by Jacobs Anne
Autor:Jacobs, Anne [Jacobs, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-Blanvalet TB
veröffentlicht: 2016-10-10T09:33:06+00:00
23
Es tut mir sehr leid, dass du warten musstest, alter Freund!«, sagte Rechtsanwalt Grünling, während er Paul jovial die Hand entgegenstreckte. »Du kennst das ja – ein unerwarteter Notfall. Eine Mandantin, die ich nicht abweisen konnte.«
»Natürlich, natürlich.«
Paul schüttelte die dargebotene Hand und machte gute Miene zum bösen Spiel. Was blieb ihm auch übrig? Während er drüben im Vorzimmer auf samtbezogenem Sessel wartete, hatte er Grünlings Telefonat zumindest teilweise mitgehört. Eine Mandantin – das war möglich. Abgewiesen hatte er sie tatsächlich nicht. Aber der angebliche Notfall war ohne Zweifel eher privater Natur gewesen. Grünling, dieser Schluri, hatte ein Rendezvous vereinbart.
»Setz dich, mein Lieber. Hat dir Fräulein Cordula einen Kaffee serviert? Nein? Das ist ja unverzeihlich.«
Paul konnte ihn gerade noch davon abhalten, der hübschen Sekretärin eine Rüge zu erteilen. Er sei durchaus gefragt worden, habe jedoch abgelehnt.
»Ich hatte bereits in der Tuchvilla zwei Tassen und danach noch eine in der Fabrik. Das sollte erst einmal genug sein.«
Grünling nickte zufrieden und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Ein ausgesprochen prachtvolles Möbelstück, Danziger Barock vom Feinsten, dunkelgrünes Leder, eine Schreibunterlage mit Orientdruck. Grünling wirkte dahinter wie ein kleiner bebrillter Affe. Vor allem, wenn er wie jetzt, die Hände vor dem Bauch faltete.
»Was kann ich für dich tun, Paul?«
Paul bemühte sich, eine gelassene Haltung einzunehmen. Grünling war seit vielen Jahren für die Melzer’sche Tuchfabrik als juristischer Berater und Beistand tätig. Sein Vater hatte ihn damals ausgewählt, weil Grünling – wie Papa es ausdrückte – ein schlauer Fuchs war. Und diskret. Das war von besonders großer Wichtigkeit.
»Ich brauche eine Beratung, Alois. Es geht um eine private Angelegenheit.«
»Ich verstehe«, gab Grünling ohne das geringste Zeichen von Überraschung zurück.
Natürlich war er nicht überrascht. Die Spatzen pfiffen es ja von allen Augsburger Dächern, dass es mit der Ehe des Fabrikanten Melzer nicht zum Besten stand.
»Ich brauche einige Details über das … das Ehescheidungsverfahren. Nur zur Information. Um auf möglicherweise eintretende Situationen vorbereitet zu sein.«
Grünling verzog immer noch keine Miene, er setzte sich jetzt gerade hin und stützte die Arme auf die Schreibtischplatte.
»Nun«, holte er aus. »Grundsätzlich wurde das Scheidungsverfahren in diesem Jahr per Reichstagsgesetz verändert. Wobei der Ansatz durchaus ist, eine Ehe so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und eine Scheidung nur als letzte Konsequenz zu sehen.«
»Gewiss.«
»Neu ist vor allem der Zusatz, dass Mann und Frau gleich sind. Leider hat es sich während der vergangenen Jahre erwiesen, dass immer mehr Frauen von der Möglichkeit einer Scheidung Gebrauch machen. Eine traurige Folge der weiblichen Berufstätigkeit.« Grünling rückte seine Brille zurecht und erhob sich, um die neuen Gesetzestexte, die sich in einem Aktenordner abgeheftet befanden, aufzuschlagen. »Zuständig ist nach wie vor das Landgericht. Der Kläger benötigt einen gravierenden Grund, um eine Ehescheidung zu verlangen. Eine einvernehmliche Scheidung, wie sie manche linke Abgeordnete fordern, wird es auch in Zukunft nicht geben.«
»Und was würde als ›gravierender Grund‹ durchgehen? Ehebruch?«
Der Rechtsanwalt blätterte im Ordner herum, setzte hier und dort den Finger auf eine Zeile, bewegte lautlos die Lippen und fuhr fort, die Seiten umzuwenden.
»Wie? Äh ja! Ehebruch selbstredend. Er muss allerdings bewiesen und mit Zeugenaussagen belegt sein.
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